Montag, 24. August 2015

Kapitalismus enttäuscht seine Jünger

Börse in New York: Allein der Dow verlor in dieser Woche rund sechs Prozent 
Börse in New York: Allein der Dow verlor in dieser Woche rund sechs Prozent

Wie kann das sein? Weltweit fallen die Aktienkurse, obwohl die Notenbanken Billionen in die Märkte pumpen. Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, funktioniert nicht mehr.

Eigentlich ist Kapitalismus eine tolle Sache. Eines seiner Grundprinzipien lautet: Das Geld der Sparer, die für die Zukunft etwas zurücklegen, wird Unternehmen zur Verfügung gestellt, die in Geschäfte mit Zukunft investieren. Zwischen Sparern und Unternehmen wiederum stehen Banken und Börsen: Dort wird das Geld gebündelt, neu verpackt und dann verliehen. Eine große finanzielle Umwälzpumpe, die Wohlstandszuwächse ermöglicht wie kein anderes real existierendes Wirtschaftssystem. 

Leider scheint dieses Modell nicht mehr zu funktionieren: Die Unternehmen investieren immer weniger in neue Anlagen und Produkte. Stattdessen schütten sie große Teile ihrer Gewinne an die Aktionäre aus. Wohlstandszuwächse für die große Mehrheit der Bürger gibt es kaum noch. Die große kapitalistische Umwälzpumpe läuft leer. 

Wundert es da irgendjemanden, dass die Börsen weltweit einbrechen? Von Shanghai bis New York fallen die Aktienkurse: Allein in der abgelaufenen Woche verlor der Shanghai SE Composite mehr als elf Prozent, der Dax fast acht Prozent, der Dow fast sechs Prozent, der Nikkei mehr als fünf Prozent.

Der wahre Grund der Krise
Die übliche Begründung für den Sinkflug lautet: Durch die allgemeine Schwächephase der Schwellenländer, insbesondere Chinas, trübten sich die Absatzerwartungen für die Unternehmen ein. Außerdem dürfte die amerikanische Notenbank Fed noch diesen Herbst den Leitzins anheben, erstmals seit 2007. Deshalb zögen sich Anleger aus dem Aktienmarkt zurück, heißt es, sie parkten ihr Geld anderswo, notfalls in Cash.

Aber ist das wirklich der Grund für die Krise an den Finanzmärkten? Was ist die tiefer liegende Ursache? Nach gängigen Bewertungsmaßstäben sind amerikanische und europäische Aktien keineswegs haltlos überteuert. Die im Dax zusammengefassten deutschen Konzerne kosteten am Freitag im Schnitt das 15-Fache ihres Jahresgewinns, weniger als im Durchschnitt der vergangenen 30 Jahre, als das Kurs-Gewinn-Verhältnis bei 19 lag. Ähnlich in den USA: Die Firmen im Dow-Jones-Index kosten das 16-Fache des Jahresgewinns, der 30-Jahre-Schnitt liegt beim 25-Fachen.

Die komplexeren Analysen des Börsenblasen-Gurus Robert Shiller, Nobelpreisträger von der Yale University und Erfinder des Ausdrucks "irrationaler Überschwang", zeigen zwar, dass Aktien im historischen Vergleich nicht gerade billig sind. Von wahnwitzigen Übertreibungen, wie sie Japan Ende der Achtziger, der Westen Ende der Neunzigerjahre und China erst kürzlich erlebten, sind die aktuellen Niveaus jedoch weit entfernt. 

Das System funktioniert nicht mehr
Und dann sind da noch die Notenbanken: Die Leitzinsen liegen nach wie vor fast überall im Westen bei null. Die EZB und die Bank von Japan schütten immer noch Billionen aus. Die Inflation ist extrem niedrig (neue Zahlen für Deutschland gibt es Freitag). Öl und andere Rohstoffe werden immer billiger. 

All das spricht für eine weiterhin ordentliche Aktienentwicklung - falls das System noch funktionieren würde wie einst. Tut es aber nicht. Die kapitalistische Geldumwälzpumpe, so sieht es aus, hat sich im Leerlauf überhitzt. Wenn die Unternehmen das Geld der Sparer nicht mehr nehmen, um damit in großem Stil in neue Geschäfte zu investieren, sondern es den Sparern zurückgeben, wirft das große Fragen auf: Womit wollen die Unternehmen eigentlich künftig Geld verdienen? Welchen Kunden wollen sie dienen? Wie wollen sie ihre Mitarbeiter beschäftigen? Stattliche gegenwärtige Gewinne verwenden sie, um gigantische Summen an die Aktionäre auszuschütten - in Form von Dividenden und durch den Rückkauf eigener Aktien. US-Unternehmen werden dieses Jahr nach Analystenschätzungen mehr als eine Billion Dollar ausschütten. Ähnlich in Großbritannien, wo Andrew Haldane, der Chefökonom der Bank of England, kürzlich vorrechnete, dass in den Siebzigerjahren Unternehmen im Schnitt nur zehn Prozent der Gewinne an die Aktionäre zurückgaben, heute jedoch die Quote bei 60 bis 70 Prozent liege.

Ideen für die Zukunft? Fehlanzeige
Auch deutsche Konzerne bedienen zuvörderst ihre Anteilseigner. Siemens etwa ist seit Jahren auf Schrumpfkurs, fährt aber ein Rückkaufprogramm über vier Milliarden Euro. Das heißt: Der Konzern verwendet Gewinne nicht, um mit innovativen Produkten zu wachsen, sondern gibt lieber seinen Aktionären ihr Geld zurück.

Aus den Zahlen des Statistischen Bundesamts geht hervor, dass die deutsche Wirtschaft insgesamt nur noch gut sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts in neue Ausrüstungen steckt - der niedrigste Wert seit Jahrzehnten, obwohl ja die Standortbedingungen hierzulande angeblich so gut sind wie kaum irgendwo auf der Welt. 

Wenn die Manager schon nicht wissen, wo sie ihr Geld investieren sollen, warum sollten Anleger ihnen dann Geld zum Investieren zur Verfügung stellen? Offenkundig haben wir es mit einer grundlegenden Vertrauenskrise zu tun. Unternehmen gehen immer weniger unternehmerische Risiken ein. Dadurch schrumpfen die Möglichkeiten, künftige Einkommen zu generieren. Das gilt für jedes einzelne Unternehmen, aber auch für ganze Volkswirtschaften.
Der leerlaufende Kapitalismus macht inzwischen seinen eifrigsten Protagonisten Sorgen. Larry Fink, Chef der weltgrößten Assetmanagement-Firma Blackrock, ging neulich per öffentlichem Brief scharf mit den Top-Managern globaler Konzerne ins Gericht: Ihre Investitionszurückhaltung sende "entmutigende Botschaften" in die Welt. Auch Strategen der Investmentbank Goldman Sachs geißeln die Aktienrückkaufmanie. Bank-of-England-Vordenker Haldane stellt gar die heutige Art der Unternehmensführung ("Corporate Governance") in Frage. 

Das System vergrätzt seine Jünger. Wundert sich irgendjemand, dass die Aktienkurse fallen? Wie gesagt: Eigentlich ist Kapitalismus eine tolle Sache. Aber derzeit ist er dabei, sich selbst zu zerstören.

Eine Kolumne von Henrik Müller

Quelle: Spiegel 24.8.15

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